IIn Kombination mit dem Wochenende konnte der «Zufall» bereits mit dem «Anfängerglück» in Verbindung gebracht werden. Betrachtet man nur den Zufallsteil der Legende, so ist eine weitere Herleitung möglich. Wird der Arbeitsplatz mit laufender Maschine verlassen, ist das ein nachlässiges Verhalten. Nachlässigkeit kann auf Unerfahrenheit zurückgeführt werden. Dem Erfolg mit der Schmelzschokolade soll demnach ein Anfängerfehler vorausgegangen sein. Wegen der Hygiene kann ein solches Missgeschick im Lebensmittelbereich umso fataler sein. R. Lindt wird zwischen den Zeilen der Legende also ein amateurhaftes Verhalten unterstellt. Ein Glückstreffer wertet im Sport den Torerfolg ab, weil jeder das Goal hätte schiessen können. Das Narrativ eines unprofessionellen R. Lindt schreibt den Erfolg also einem Zufallstreffer zu – getreu dem Motto: «Auch ein blindes Huhn findet einmal eine Schokolade. Auf diese Weise wird ein «Pionier» zum «Anfänger» abgestempelt. Duch die Legende wird somit die Person abgewertet. Da die Leistung eines Anfängers allgemein weniger beachtet wird, ist bereits ein möglicher Grund für die fehlende Anerkennung von R. Lindt gefunden. Dieser Abschnitt widmet sich weiterer Stellen, an welchen er als inkompetent dargestellt wird und welche sich unter «Zufall» kategorisieren lassen. Im Text werden die Verknüpfungen der Zufallslegende dadurch sichtbar.
Bevor die Textverknüpfungen geprüft werden können, muss aber noch ein weiterer Aspekt der Zufallslegende angesprochen werden. Bei einem mehrstufigen Verfahren bedeutet ein Zufallstreffer noch nicht, dass das Gesamtproblem gelöst ist. Bei komplexen Problemen gibt es zudem Abhängigkeiten, welche nur mit Fachwissen und Erfahrung erkannt werden können. Diese Voraussetzungen beissen sich jedoch mit der Zufallslogik. Für das Narrativ eines Anfängers musste deshalb auch noch die technische Errungenschaft vereinfacht werden. Zuerst wurde das Schmelzschokoladenverfahren auf die Conchiertechnik beschränkt. Hierfür wurde unter anderem das Temperieren ausgeklammert. Anschliessend musste man die verschiedenen Arbeitsschritte des Conchierens auch noch auf «längeres Rühren» reduzieren. Mit diesem innovativ-destruktiven Kniff wurde aus einem komplexen ein einfaches Verfahren konstruiert, welches sich sogar durch einen Glückstreffer entdecken liess. Zufälligerweise entspricht «längeres» Rühren genaue der Zeitspanne eines Wochenendes – ein Schelm, wer jetzt auf zartbittere Gedanken kommt. Für pädagogische Zwecke kann eine Vereinfachung sinnvoll sein. Im konkreten Fall wird aber einzig und allein die Abwertung der Errungenschaft bezweckt, um die Zufallslogik plausibilisieren zu können. Gemäss diesem Narrativ hätte die Schmelzschokolade jeder entdeckt, der etwas länger im Topf gerührt hätte. Ein solcher Vereinfachungsversuch kommt im nachfolgenden Zitat besonders gut zum Ausdruck.
Zitat: Er taufte seine wundersame Kreation «Chocolat Fondant» -schmelzende Schokolade. Dass man die Schokolade sehr lange rühren muss – das war R. Lindts ganzes Geheimnis. Dass er das zwanzig Jahre lang vor der neugierigen Konkurrenz verheimlichen konnte, ist schon erstaunlich (Patriarchen, A. Capus, S. 20).Gegendarstellung: Rühren ist das eine; die korrekte Temperatur, Conchierdauer und Menge an Kakaobutter sind andere Parameter, welche dem lesenden Publikum vorenthalten werden. All das stand nun auch noch in Abhängigkeit. Und zwar von der Kakaosorte. Und vom Röstgrad. Und vom gewünschten Aroma der Schokolade. Unter diesen Umständen ist es alles andere als erstaunlich, dass das Geheimnis über Jahre nicht gelüftet werden konnte. Die nicht conchierten Ur-Schokoladen der Konkurrenz hatten eine wesentlich härtere Konsistenz als die zarte Schmelzschokolade. Ergo musste man sich am Fabrikationsgeheimnis wortwörtlich die Zähne ausgebissen haben. Nach der stundenlangen Bearbeitung in der Conchiermaschine muss die Masse aber auch noch einem Temperaturintervall unterzogen werden. Damit lassen sich die Kristalle in der conchierten Masse stabilisieren. Nur so hat die ausgehärtete Schokolade genügend Stabilität, damit sie vor dem Verzehr abgebrochen werden kann. Auch für das Temperierverfahren mussten zuerst einmal die korrekten Temperaturen gefunden werden. Der Vater von R. Lindt war Apotheker. Mit seinem chemisch-technischen Wissen konnte er die Entwicklung unterstützen. Im Vergleich mit den damaligen Schokoladenfabrikanten in der Schweiz war dieses Apothekerwissen schlussendlich der spielentscheidende Faktor.
Abweichung: Mangelndes Interesse am Schokoladenhandwerk wäre eine mögliche Erklärung für diese Abweichung. Jedermann hätte aber auf die Idee kommen können, einfach etwas länger im Topf zu rühren. Eine solche Entdeckung wäre sogar mit Nichtstun über ein Wochenende möglich gewesen. Gestützt auf die Fakten ist langes Rühren aber ganz klar eine Vereinfachung und möglicherweise ein Plausibilisierungsversuch des «Zufallswochenendes». Das zum Ausdruck gebrachte Erstaunen wirkt daher eher künstlich.
Exakt das gleiche Muster wiederholte sich im Dokumentarfilm «Schweiz und die Schokolade». In einer Interviewsequenz wird auch dort zuerst die Legende als Alternative zu den Fakten erwähnt. Daraufhin fragt der Reporter erstaunt:
«Das heisst sein grosses Geheimnis bestand nur darin, die Schokoladenmasse länger zu rühren?»
Darauf antwortet der Autor:
«Das ist sein einziges Geheimnis, die Maschine viel, viel länger umrühren zu lassen. Und das grosse Wunder daran ist, dass R. Lindt – er hatte ja immerhin einige Mitarbeiter – dieses so schlichte Geheimnis, das sich in einem Satz weitergeben lässt, 20 Jahre lang gehütet hat».
Im Interview wird die Einfachheit besonders hervorgehoben. Das macht den Plausibilisierungsversuch der Legende nun offensichtlich. Damit ist die Vereinfachung beziehungsweise Abwertung der Sache vorerst abgeschlossen. Jetzt richtet sich die Aufmerksamkeit auf einzelne Stellen, an denen die Person abgewertet wird und welche mit dem Zufallsteil der Legende zusammenhängen. Die Zitate können dabei chronologisch analysiert werden.