Schokolade: Eine wahre geschichte

Quellen

Rudolf Lindt wurde nicht verurteilt. Sein Bruder starb mitten in den Verhandlungen. Bei der Quellenprüfung muss diesen Fehlern nachgegangen werden.
Quellen

Prüfung

Zentraler Bestandteil dieser Gegendarstellung ist die bekannteste Biografie von R. Lindt aus «Patriarchen». Die Gegenüberstellung mit den realen Gegebenheiten weist auf unwahre Behauptungen hin. Durch die Analyse sind aber auch Zweifel an der Objektivität entstanden. Infolge des Streites könnte die negative Darstellung der Berner Seite nämlich auf der Wahrnehmung der Gewinner basieren. Die Quellentexte müssen daher ebenso geprüft werden. Mit der angeblichen Verurteilung von R. Lindt und der fehlerhaften Chronologie sind im Buch zudem zwei grobe Fehler enthalten. Bei der Quellenprüfung liegt das Hauptaugenmerk daher auf den Stellen, an welchen die Rechtsstreitigkeiten beschrieben werden. Wenn dieselben Fehler gefunden werden, könnte «Patriarchen» zumindest ein wenig entlastet werden. Ausserdem muss jeweils der Frage nachgegangen werden, wie losgelöst von Vorurteilen die Verfasser waren. Im Abschnitt «Patriarchen» können so die Quellentexte den entsprechenden Stellen im Buch zugeordnet werden. Anschliessend ist eine Gesamtbeurteilung möglich. Schliesslich müssen auch noch zwei Medienbeiträge angesprochen werden, welche die fragwürdige Darstellung aufgreifen.
Quelle

Pioniere der Wirtschaft und Technik: Sprüngli und Lindt

1970 erschien der 22. Band der Buchreihe «Pioniere der Wirtschaft und Technik». Der biografische Text wurde von H. R. Schmid geschrieben. Im selben Jahr feierte das vereinigte Unternehmen sein 125-jähriges Bestehen. Als Referenzjahr gilt dabei 1845, weil damals R. Sprüngli mit der Schokoladenfabrikation begann. Aus diesem Anlass erschien der Text auch als Firmenschrift unter dem Titel «125 Jahre Freude bereiten». In Schmids Biografie wird das Narrativ eines Zufalls nur leicht angedeutet:

«Weil sich seine Persönlichkeit so schwer einordnen lässt, ist schon behauptet worden, bei seinen Erfindungen und Entdeckungen habe der Zufall die Hand im Spiel gehabt. Aber auch wenn dem so wäre, so bleibt die Tatsache bestehen, dass R. Lindt derjenige war, der als erster die feinschmelzende Schokolade herstellte, die die Vorgängerin der heutigen Schokoladentafel ist (Pioniere der Wirtschaft und Technik, Sprüngli und Lindt, H. R. Schmid, S. 62)».


Von einer Legende ist aber noch keine Rede. Die Erzählung ist somit auch noch nicht auf einem Zufallswochenende aufgebaut. Dementsprechend orientiert sich der Autor an den Fakten. Im Buch werden zudem betriebswirtschaftliche Kennzahlen genannt, welche eine objektive Beurteilung ermöglichen. Eine Verurteilung von R. Lindt wird nicht genannt. Der Tod von A. Lindt ist zwar nicht erwähnt. Dadurch wird die Chronologie jedoch nicht verfälscht. Da keine ironischen Bemerkungen verwendet werden, fällt diese Ausklammerung weniger stark ins Gewicht. Das tragische Ereignis könnte sogar aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen ausgelassen worden sein. Trotzdem muss eine kritische Textpassage angesprochen werden.

Zitat: Die Mitglieder der Familie Lindt verpflichteten sich, für alle Zeiten auf die Fabrikation von Schokolade zu verzichten (Pioniere der Wirtschaft und Technik, Sprüngli und Lindt, H. R. Schmid, S. 83).

Konkretisierung: Hier geht es um den Inhalt der aussergerichtlichen Vereinbarung von 1928. W. Lindt, seine Frau und der Sohn sowie die Witwe von A. Lindt und der Sohn unterzeichneten den Vergleich. Unter den Punkten 5 und 6 der Vereinbarung wurde der Verzicht auf die Schokoladenfabrikation geregelt:

5. Die Erben des Herrn August Lindt, Herr Walter Lindt, sowie die Firma A & W. Lindt verpflichten sich hiermit, die Fabrikation von Chocolade endgültig aufzugeben und auf dem Gebiete der Chocoladefabrikation inskünftig nicht mehr tätig zu sein, weder durch irgendwelche Beteiligung an einem Geschäfte auf diesem Gebiete, noch durch irgendwelche Unterstützung eines solchen.


6. Herr August Lindt. mehrjähriger Sohn des Herrn August Lindt Senior, sowie Herr Paul Lindt, minderjähriger Sohn des Herrn Walter Lindt, hier vertreten durch seinen Vater, verpflichten sich gegenüber der Firma A.G. Lindt & Sprüngli ebenfalls, auf dem Gebiete der Chocoladefabrikation inskünftig nicht tätig zu sein, also keine Chocoladefabrik zu eröffnen, noch ihren Namen oder ihre Unterstützung zum Betriebe einer solchen zu geben, überhaupt sich jeder Konkurrenzhandlung gegenüber der Klägerin zu enthalten (Vergleich 1928, Klägerin, S 7).


Übrigens erklärte das Bundesgericht bereits im Jahr 1909 eine zeitlich unbegrenzte Konkurrenzklausel für ungültig (Urteil gegen A. und W. Lindt 1927, Obergericht, S. 17).

Abweichung: Diese Formulierung könnte missverstanden werden. Denn die Einschränkungen aus der Vereinbarung galten nicht für die gesamte Familie. Die anderen Familienmitglieder hätten durchaus im Schokoladenbereich tätig sein dürfen. Gestützt auf das Namensrecht hätten sie sogar unter dem Familiennamen am Geschäftsverkehr teilnehmen können – im Fall einer Kollektivgesellschaft sogar müssen. Die Vermarktung hätte jedoch im Rahmen des Lauterkeitsprinzips erfolgen müssen (P. Gucci / G. Gucci S.p.A., BGE, 116 II 614, S 617). Ein Konkurrenzverbot auf alle Zeiten ist rechtlich schlicht nicht durchsetzbar.
Der Bau der neuen Schokoladenfabrik kostete mehr als budgetiert. Daher musste mehr abgeschrieben werden als geplant.
An dieser Stelle beschreibt H. R. Schmid die Situation um 1900. Sollten seine Feststellungen in Zweifel gezogen werden, würde sich umgehend die Frage stellen, warum sein Text trotzdem für die Firmenbiografie zum 125-Jahresjubiläum übernommen wurde (Text aus «Pioniere der Wirtschaft und Technik» in der Firmenschrift «125 Jahre Freude bereiten»,
H. R. Schmid).
Quelle

150 Jahre Freude bereiten

1995 wurde A. Lindt Junior 90 Jahre alt. 1927 hatte er seinen Vater verloren. Noch während der Trauerzeit hatte er bei den Verhandlungen einspringen müssen. Für weitere Information über ihn wird auf den 4. Akt des Paradebeispiels im Abschnitt Verschmelzung/Trennung des Streites verwiesen.

Im gleichen Jahr feierte das verschmolzene Unternehmen sein 150-Jahresjubiläum. Anlässlich dieser Feierlichkeiten erschien die Firmenbiografie, welche von den Autoren P. Treichler und G. Corradi verfasst wurde. In diesem Buch taucht die Legende zum ersten Mal auf:

«War der Zufall im Spiel? Dauerte die Experimentierphase in der Matte in Wirklichkeit beträchtlich länger? Oder hatte Lindt gar, wie eine weitere Version der Gründungssaga besagt, an einem Wochenende vergessen, seinen Längsreiber auszuschalten? So dass er am Montag völlig perplex vor einer Wanne neuartiger Schokoladenmasse stand (150 Jahre Freude bereiten, S. 47).


Das Zufallswochenende ist bereits mit anderen Abwertungen im Text verknüpft. So kann beispielsweise die Beschreibung als:

«Fabrikant mit Secondhand-Fabrik» (150 Jahre Freude bereiten, P. Treichler und G. Corradi, S. 45),


einem Anfänger zugeordnet werden, der für seinen Erfolg auf einen Zufall angewiesen ist. Auch die Freizeitorientierung wird besonders betont:

«Viel lieber frönte Lindt der Jagd und dem Kunstgenuss, gab sich unter der Berner Jeunesse dorée als Bonvivant und Kenner» (150 Jahre Freude bereiten, P. Treichler und G. Corradi, S. 48).


Für den Abschnitt über den Streit wurde ein doch eher kriegerischer Titel gewählt:

«Zeit der Kriege und Krisen» (150 Jahre Freude bereiten, P. Treichler und G. Corradi, S. 57).


Entsprechend sticht dem Betrachter auch der militärische Jargon ins Auge:

«Dieser schmachvolle Feldzug war von der vertragsbrüchigen Partei von langer Hand vorbereitet; wir werden den Angreifern mit blanken Waffen gegenübertreten» (150 Jahre Freude bereiten, P. Treichler und G. Corradi, S. 62).


Ausserdem folgt am Schluss eine doch eher einschränkende Bemerkung:

«Nachzutragen bleibt jedoch, dass das Kriegsbeil mit der hochangesehen und weitverzweigten Familie Lindt inzwischen längst begraben wurde und dass einzelne Mitglieder gerngesehene Aktionäre sind» (150 Jahre Freude bereiten, P. Treichler und G. Corradi, S. 64).


Der Text enthält aber keine Angaben zu einer Verurteilung von R. Lindt. Die aussergerichtliche Einigung folgt zudem auf den Tod von A. Lindt. Damit ist die Chronologie korrekt. Wenn ein Text über eine Streitpartei von der Gegenseite geschrieben wurde, muss die Objektivität zwingend hinterfragt werden. Der kriegerische Titel mag zwar zum Ersten Weltkrieg und zum 150-jährigen Firmenjubiläum gepasst haben. A. Lindt Junior sah sich dadurch aber sicher wieder mit traurigen Erinnerungen konfrontiert. Auch wenn die Demütigung primär R. und A. Lindt galt, so war sie rücksichtlos gegenüber einem 90-jährigen Nachkommen. Diese Art der Selbstdarstellung am Zürichsee wirft weitere Fragen auf, die diese Gegendarstellung jedoch nicht beantwortet.
Quelle

Patriarchen

2006 erschien das Buch mit 10 Kurzgeschichten über Schweizer Wirtschaftspioniere. Im ersten Kapitel wird R. Lindt porträtiert. Die übrigen Biografien wirken sachorientiert. Der Autor ist in Frankreich geboren, in Basel aufgewachsen, wo er Geschichte, Philosophie und Ethnologie studierte. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Olten (13 wahre Geschichten, A. Capus, S. 2).

Die Quellenprüfung lässt folgende Schlüsse zu: Die Buchrecherche beschränkte sich offenbar auf vorhandenes Quellenmaterial. Für den ersten Teil mit dem Zufallswochenende bediente man sich aus «150 Jahre Freude bereiten». Die Darstellung des Streites im zweiten Teil stützt sich hingegen eher auf «Pioniere der Wirtschaft und Technik». Ausgenommen davon ist die Behauptung, dass R. Lindt verurteilt wurde. Auch die fehlerhafte Chronologie lässt sich keiner Quelle zuordnen. Somit lassen sich diese zwei Fehler nicht erklären. Für die teils unwahren Abwertungen wurde immerhin eine blumige Sprache verwendet. So kann zumindest die lyrische Wortakrobatik als positiver Punkt des Buches hervorgehoben werden.

Die bekannteste Biografie von R. Lindt basiert also zum Teil auf der Wertung seiner Gegenspieler, welche die Partnerschaft und den Streit als die «Zeit der Kriege und Krisen» betitelte. Damit ist die fehlende Objektivität bestätigt. Aufgrund der Fehler ist der Text jedoch zu wenig seriös, um als Biografie bezeichnet zu werde. Es handelt sich eher um eine fiktive Geschichte, welche zum Nachteil der Berner Seite verfasst wurde.
Quellen

Fazit

In der Regel hat die Aussage eines Historikers mit Universitätsabschluss Gewicht. Deshalb trägt man eine gewisse Verantwortung. Dem Autor von «Patriarchen» war bekannt, dass es einen Streit mit Gewinnern gegeben hatte. Aufgrund seiner Studienjahre am Basler Rheinknie hätte ihm ausserdem das Phänomen «The winner takes it all (Sieger schreiben die Geschichte)» bewusst sein müssen. Er hätte den Text der Sieger über die Verlierer somit kritischer betrachten sollen. Offensichtlich hatte er aber keine Kenntnis von den Gerichtsurteilen. Durch das neue Quellenmaterial liegt nun ein juristischer Sachverhalt vor, welcher eine wesentlich positivere Darstellung von R. Lindt voraussetzt.

Erstaunlich sind lediglich zwei Umstände: dass ein Historiker die subjektive Schilderung eines Streits ungefiltert übernahm, und dass seine einseitige Darstellung 20 Jahre lang als seriöse Biografie wahrgenommen wurde. Selbst Medienschaffende haben sich mehrfach auf den Text bezogen. Ein Videobeitrag der Weltwoche ist das jüngste Beispiel. In «Meilenstein der Schweizer Geschichte: Die Erfolgsgeschichte von Lindt & Sprüngli und wie die Schweiz überhaupt zur Schokolade kam» versucht sogar ein Geschichtsprofessor die wissenschaftlich unlogische Legende zu erklären.

Ein weiteres Beispiel ist «Schweiz und die Schokolade». Eigentlich sollte das Publikum bei einem Dokumentarfilm davon ausgehen können, dass der Inhalt wahr ist. Trotzdem erhält der Autor von «Patriarchen» darin eine Plattform, um seine Plattitüden zu verbreiten. Die Dokumentation über die Schweizer Schokolade wurde bereits im Jahr 2023 auf dem Fernsehsender 3sat ausgestrahlt. Anschliessend reagierte der Autor zwar auf die Kritik und entschuldigte sich für seine Fehler im Buch. Im Jahr 2024 hielt er es jedoch nicht für nötig, im Vorfeld der Ausstrahlung im Schweizer Fernsehen zu intervenieren.

Die unkritische Haltung gegenüber «Patriarchen» ermöglichte es der Legende, sich in der Öffentlichkeit als die bekannteste Abwertung von R. Lindt zu etablieren. Bevor der Autor jetzt kritisiert wird, sollte sich jeder die Frage stellen, warum man ihm das «Zufallswochenende» jahrelang nachgebetet hat. Im nächsten Kapitel muss nun versucht werden, mögliche Auswirkungen der teils unwahren Abwertungen zu eruieren.
Made on
Tilda